Zwischen Schnitt und Seele: Im Atelier von Kathrin Musswessels

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Mit einem feinen Gespür für Schnitte, Materialien und gesellschaftliche Strömungen schafft Kathrin Musswessels Mode, die weit über den bloßen Kleidungszweck hinausgeht. In ihrem Studio auf St. Pauli – gleichzeitig Atelier, Showroom und Treffpunkt – entstehen unter dem Label MUSSWESSELS minimalistische Kollektionen mit Seele: durchdacht, ehrlich und nah am Menschen. Seit der Gründung 2009 verfolgt die Designerin einen kompromisslos nachhaltigen Ansatz, arbeitet mit kleinen Nähereien in Deutschland und Polen, verwendet Reststoffe europäischer Überproduktionen – und verbindet in ihren Entwürfen feine, fast poetische Details mit klarer Haltung. Ihre Looks balancieren spielerisch zwischen Androgynität und femininen Elementen, zwischen reduzierter Form und erzählerischer Tiefe.

Doch wie entstehen solche Entwürfe? Welche Rolle spielt der Alltag im kreativen Prozess – und was braucht es, um als Designerin und Unternehmerin zwischen Handwerk, Anspruch und Wandel zu bestehen? In unserem Gespräch erzählt Kathrin Musswessels von Feuer im Ofen, Lieblingsstücken mit Persönlichkeit, der Kraft des persönlichen Kontakts – und warum echtes Design immer mehr ist als nur Form.

Designerin und Gründerin Kathrin Musswessels

Kathrin Musswessels

Kathrin, Stell dir vor, du müsstest dein Atelier einem Außenstehenden in nur drei Worten beschreiben – welche wären das?

„Schnittwerkzeuge, ein Feuer im Ofen, mein Zuhause „

Deine Entwürfe wirken auf den ersten Blick schlicht, offenbaren aber raffinierte Details und eine starke Haltung. Was bedeutet für dich Minimalismus in der Mode – und wo liegt für dich der Unterschied zwischen „einfach“ und „durchdacht“?

„Ich mag es, wenn ein Kleidungsstück eine gewisse Sachlichkeit ausstrahlt. Die Schnittführung spielt dabei eine zentrale Rolle: Es sollte elegant fallen und den Körper subtil in Szene setzen. Gleichzeitig braucht es Persönlichkeit – sei es durch ein liebevolles Detail im Inneren, eine raffinierte Verarbeitung oder eine schmeichelnde Innenseite, die sich angenehm auf der Haut anfühlt. So wird es zum Lieblingsstück mit Charakter.“

Viele deiner Looks bei Musswessels vereinen androgynen Stil mit femininen Elementen. Was reizt dich an dieser Balance und wie spiegeln sich gesellschaftliche Entwicklungen in deinen Silhouetten wider?

„Als Geborene in der Generation X war es für mich fast selbstverständlich, Geschlechterrollen früh zu hinterfragen. Die sachliche Mode der 90er-Jahre hat das noch verstärkt. Umso mehr freut es mich heute, dass unsere – aus meiner Sicht inklusiven – Modelle von Menschen jeden Geschlechts getragen werden.“


Du sammelst Eindrücke aus dem Alltag, Farbkombinationen von Blumensträußen oder Vintage-Magazinen. Wie formt sich aus diesen Einflüssen eine neue Kollektion? Gibt es einen Moment, in dem sich aus dem Chaos der Inspiration plötzlich eine klare Vision ergibt?


„Das Chaos der Inspiration und die klare Vision gehören zusammen. Es ist ein ständiges Wechselspiel dieser beiden Pole, das letztlich zu etwas Neuem führt.“


Du arbeitest mit kleinen Nähereien in Deutschland und Polen, verwendest Stoffe aus Überproduktionen. Welche Hürden, aber auch Chancen siehst du in dieser Art der nachhaltigen Produktion?

„Die Hindernisse liegen klar auf der Hand – die Preise sind in Europa einfach höher. Aber die Chancen, die sich durch kurze Wege ergeben, sind nicht zu unterschätzen. Ich bin meinen Produzenten viel näher, als es bei einer Produktion in Südostasien der Fall wäre. Die Kommunikation ist persönlicher und schneller. Dadurch werden auch spontane Änderungen oder Kleinstserien möglich, die unser Angebot exklusiv und flexibel machen..“

die aktuelle Kollektion von Musswessels auf dem Laufsteg

Was müsste sich deiner Meinung nach strukturell in der Modebranche ändern, damit nachhaltiges Arbeiten nicht die Ausnahme, sondern der Standard wird – auch wirtschaftlich?

„Das Prinzip „Qualität vor Quantität“ sollte überall gelten – nicht nur in der Mode. Es ist nicht nachhaltig, wenn Marken 24 Kollektionen pro Jahr auf den Markt bringen. Ich selbst mache zwei pro Jahr – und das reicht. Wir alle sind gefragt, unseren Konsum zu überdenken und auf Langlebigkeit statt auf ständige Neuheiten zu setzen.“

Dein Laden ist nicht nur Verkaufsraum, sondern zugleich Studio – wie beeinflusst diese räumliche Nähe von Entwurf und Verkauf die Energie und Authentizität deiner Marke?

„Die Nähe zwischen Entwurf, Produktion und Verkauf wirkt sich sehr positiv auf die Kreativität aus. Es hilft enorm, direktes Feedback von unseren Kundinnen zu bekommen – viele erleben die Entstehung der Stücke mit und äußern dabei gleich neue Wünsche. Dieser unmittelbare Austausch ist unglaublich wertvoll und gibt uns täglich neue Motivation. Das bereitet mir große Freude.“

Wer trägt MUSSWESSELS? Gibt es ein bestimmtes Kund:innenprofil – oder vielleicht eine Haltung, die deine Käufer:innen miteinander verbindet?

„Wir freuen uns über alle, die Interesse an unserer Arbeit haben. Auffällig ist aber, dass viele unserer Kund:innen aus dem gestalterischen Bereich kommen – etwa aus Medien, Kunst oder Film – und ein eher offenes, reflektiertes Mindset mitbringen.“

Welche Rolle spielt der persönliche Kontakt im Laden? Gibt es Begegnungen mit Kund:innen, die dich in deiner Arbeit besonders berührt oder inspiriert haben?

„Genau das ist das Schöne: Immer wieder entstehen im Laden intensive Gespräche – Frauen erzählen von ihrer Arbeit, ihrem Leben, und diese Geschichten beeinflussen auch meine Arbeit. Manche Kund:innen haben sich sogar untereinander vernetzt und gemeinsame Projekte gestartet. Der Laden ist also auch ein Raum für Begegnung und Inspiration.“

Was war das letzte Kleidungsstück – egal ob Vintage-Fund oder eigener Entwurf – das dich so begeistert hat, dass du es am liebsten gar nicht mehr ausgezogen hättest?

„Unser Overall „Rose“ – ich trage ihn das ganze Jahr über, weil er sich perfekt zum Arbeiten eignet. Er ist auch einer unserer Bestseller geworden.“

Du hast viele Stationen durchlaufen – von der Lehre bis zur eigenen Marke. Gab es einen Wendepunkt oder Aha-Moment, der dich besonders geprägt hat?

„Eigentlich wusste ich von Anfang an, dass ich etwas Eigenes machen möchte. Aber es war mir wichtig, vorher Erfahrungen zu sammeln und zu sehen, wie andere arbeiten. Das hat mich bestärkt und vorbereitet.“

Kathrins persönliches Lieblingsstück: der Overall „Rose“

Als Designerin bist du nicht nur kreativ, sondern auch Unternehmerin. Was waren deine größten Learnings beim Aufbau eines eigenen Labels – und welche Fähigkeiten braucht man abseits des Designs, um in dieser Branche zu bestehen?

„Ich habe mit der Zeit gelernt, dass man nicht alles alleine machen kann – auch wenn es hilfreich ist, vielseitig zu sein. Vor allem braucht es Freude an der Arbeit, Mut und ein gutes Netzwerk aus Freund:innen und Familie. In schwierigen Phasen geben sie Kraft. Und: Es braucht eine liebevolle Beziehung zu sich selbst, um offen und inspiriert zu bleiben.“

Du hast mit Vintage begonnen, dann eigene Kollektionen entwickelt – alles auf St. Pauli. Wie hat dieser Stadtteil dein Label geprägt? Und was bedeutet es für dich, im kreativen Umfeld von Hamburg verwurzelt zu sein?

„St. Pauli ist offen – hier treffen sich Menschen aus verschiedensten Schichten und Lebensrealitäten. Es wird viel toleriert, man freut sich über Andersartigkeit. Das macht mich glücklich und inspiriert mich. Offene Augen und Ohren sind die Basis für alles.“

Wenn du jungen Designer:innen einen Rat mitgeben könntest, der über das Offensichtliche hinausgeht – was wäre das? Was hättest du selbst gern früher gewusst?

„Wer kein eigenes Label gründen will, sollte neben einer fundierten Ausbildung früh über die eigenen Werte nachdenken. So landet man nicht in einem Unternehmen, dessen Ziele man nicht teilt. Es gibt nur noch wenige Arbeitgeber in der Branche – ein Blick in die aktuellen Stellenanzeigen kann da schon aufschlussreich sein, selbst wenn es nur zum Spaß ist.“

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