Estelle Gassmann – Über die Kunst, sich selbst zu überraschen

Feine Linien, sanfte Rundungen, leuchtende Glasuren – und dazwischen immer wieder ein Moment des Staunens: Die Arbeiten von Estelle Gassmann sind geprägt von Intuition und einer tiefen Freude am Entstehen. Ob Gefäß, Objekt oder Bettwäsche – alles folgt bei ihr einer leisen, aber bestimmten Handschrift, die Schönheit und Alltag mühelos verbindet. Ihre Entwürfe erzählen von einem feinen Gespür für Form, Material und Zufall – und von der Freiheit, sich auch selbst überraschen zu dürfen.

Estelle, wie hat alles angefangen? Wann war für dich klar, dass du dein eigenes Atelier gründest?
„Das war eigentlich direkt nach dem Studium. Ich habe Textildesign abgeschlossen und damals schon Bettwäsche entworfen – und Geschirr. 2006 war das Jahr, in dem ich zum ersten Mal an der BLICKFANG teilgenommen habe. Vorher habe ich schon Postkarten im Bellerive Museum in Zürich verkauft. Richtig los ging es dann mit Tellern: alte Stücke aus dem Brockenhaus, die ich gesammelt und mit eigenen Designs bedruckt habe. Das passte einfach zu mir. Schon während des Diploms habe ich ein paar davon verkauft, und die Nachfrage war da. Die Leute mochten meinen Stil – das hat mir Mut gemacht.
Ich bin jemand, der gern organisiert, aber seinen eigenen Rhythmus braucht. Ich wollte einen Rahmen schaffen, in dem ich frei entscheiden kann, aber auch offen bleibe für andere. So ist mein Atelier ganz organisch entstanden. Eine Freundin, die schon bei der BLICKFANG war, fragte mich damals, ob wir uns einen Stand teilen wollen. Das lief so gut, dass ich einfach weitergemacht habe. Ich plane selten weit im Voraus – wenn etwas funktioniert, folge ich diesem Weg. Es entwickelt sich von selbst.“

Und irgendwann war klar, dass du das hauptberuflich machen möchtest?
„Genau. Ich habe das zunächst viele Jahre lang nebenbei gemacht – anfangs einfach aus Freude am Gestalten, ohne großen Plan, wohin es mich führen würde. Es war mein Ausgleich, mein Raum für Ruhe und Konzentration. Mit der Zeit wurde daraus jedoch mehr: Ich bekam Anfragen, meine Arbeiten fanden ihr Publikum, und ich merkte, dass mich nichts so sehr erfüllte wie dieses Schaffen mit den Händen. Nach etwa neun Jahren war klar, dass ich den Schritt wagen möchte – und seither bin ich hauptberuflich selbstständig. Das war ein großer, aber sehr stimmiger Moment: Es fühlte sich nicht nach einem Bruch an, sondern wie eine natürliche Entwicklung.“
Deine Inspiration scheint oft aus Alltagsbeobachtungen zu kommen – von zerknülltem Papier bis zu Meeresalgen. Wie entstehen daraus deine Arbeiten?
„Ich mag einfache Prozesse. Ich bestimme ungern Formen selbst, sondern übernehme sie, wenn sie sich zufällig ergeben – wie bei zerknülltem Papier oder Algen. In der Keramik interessiert mich, wie sich Material verhält, wenn man es durch ein Loch drückt, wie man das steuern oder zulassen kann. Ich arbeite mit Schmelzmassen, die unterschiedlich stark fließen, und darauf platziere ich dann Bilder. Es ist ein Experimentierfeld – immer wieder dasselbe Prinzip, aber jedes Mal anders.
Bei meiner neuen Bettwäschekollektion war das ähnlich. Ich habe sie mit einer Illustratorin aus Leipzig entwickelt, die mit Knetmassen Strukturen im Stadtraum abnimmt – wie Stempel. Das fand ich spannend, weil ich selbst viel mit dem Abnehmen und Übertragen von Formen arbeite. So wurde daraus eine gemeinsame Kollektion, in der Bekanntes in einen neuen Zusammenhang gesetzt wird.“
Also spielen Experiment und Zufall eine wichtige Rolle?
„Ja, unbedingt. Ich beobachte etwas, und dann wiederhole ich es – mit kleinen Veränderungen. Ich arbeite schon lange mit keramischen Digitaldrucken. In den letzten Jahren habe ich begonnen, diese zu schichten. Auf der Schmelzmasse verziehen sie sich, werden fast malerisch. Mich interessieren genau diese feinen Unterschiede, die beim Wiederholen entstehen.“
Du arbeitest mit Keramik, Textilien und Fundstücken. Was zieht dich an diesen Materialien an?
„Die Haptik, das Überraschende – und die Ästhetik. Ich mag feine, organische Formen, manchmal bunt, manchmal ruhig, aber immer mit einer gewissen Leichtigkeit. Ich arbeite gern so, dass auch ich selbst überrascht werde. Wenn etwas entsteht, das ich nicht ganz geplant habe, ist das oft der schönste Moment. Ich möchte beim Arbeiten staunen können – über das Material, über eine zufällige Farbverschiebung, eine unerwartete Form, die plötzlich Sinn ergibt. Diese kleinen Überraschungen sind wie ein Dialog mit dem Material. Ich gebe etwas hinein, und es antwortet auf seine eigene Weise. Das macht meine Arbeit lebendig und hält sie für mich spannend, auch nach all den Jahren.“


Wie entscheidest du, welches Material zu welchem Objekt passt?
„Oft durch Kontrast – oder durch Harmonie. Manchmal farblich, manchmal materiell. Abfall auf einem Teller, Algen auf Bettwäsche – solche Brüche reizen mich. Algen wachsen im Übergang zwischen Land und Wasser. Diese Zwischenräume interessieren mich sehr. Sie erinnern mich an den Moment zwischen Schlaf und Wachsein – und genau dort ist ja auch Bettwäsche zu Hause. Für mich muss es Sinn ergeben – durch Spannung oder Stimmigkeit.“
Und wie steht es um Nachhaltigkeit in deiner Arbeit?
„Bei meinen Textilien achte ich auf kurze Lieferwege, hochwertige Materialien und die persönliche Zusammenarbeit mit den Produzierenden. Stoffreste werden nach Möglichkeit weiterverarbeitet, sodass so wenig wie möglich verloren geht. Auch in der Keramik spielt Nachhaltigkeit eine Rolle: Viele meiner Arbeiten entstehen aus alten Geschirrteilen, die ich in einen neuen Kontext bringe. Gleichzeitig liegt mir der künstlerische Prozess am Herzen, und beim Brennen steht die Kreativität im Vordergrund – so verbindet sich verantwortungsvolles Arbeiten mit der Freude am Entdecken.“
Deine Arbeiten wirken oft poetisch, fast traumartig. Was möchtest du den Menschen mitgeben, die sie betrachten?
„Ich möchte, dass sie genau hinschauen. Dass sie andocken, wo sie etwas für sich entdecken. Es geht um diese stillen Momente, in denen man in eine andere Welt eintaucht – ganz ohne große Inszenierung.“
Du bist seit vielen Jahren Teil der BLICKFANG Zürich. Was bedeutet dir diese Messe?
„Sehr viel. Ich mag den Austausch mit den anderen Aussteller:innen und die Atmosphäre beim Aufbau. Die Lage mitten in der Stadt ist wunderbar, und das Publikum ist offen und interessiert. Viele meiner Kund:innen kommen jedes Jahr wieder. 2006 war ich das erste Mal dabei – das hat mir damals sehr geholfen, meinen eigenen Weg zu finden. Diese drei Tage sind jedes Mal etwas Besonderes.“


Wie wichtig ist dir der direkte Kontakt mit den Besucher:innen?
„Der direkte Kontakt ist grundlegend für mich. Ich sehe sofort, was die Leute anspricht, wie sie reagieren. Nach drei Tagen weiß ich, was funktioniert – und was nicht. Das ist unglaublich wertvoll.“
Gab es auf deinem Weg Momente, in denen du dich neu orientieren musstest?
„Ja, viele. Ein großer Schritt war, als ich nach Jahren mit Keramik beschlossen habe, meine Bettwäsche vom Diplom tatsächlich produzieren zu lassen. Ich habe damals 200 bis 300 Meter Stoff drucken lassen – das war ein großes Risiko. Heute geht es mehr um das Unternehmerische. Ich möchte gewisse Aufgaben abgeben, etwa den Vertrieb. Ich bin Gestalterin, keine Verkäuferin – das darf ruhig jemand anderes übernehmen.“
Was macht deine Arbeit unverwechselbar?
„Ich glaube, es ist der hohe Wiedererkennungswert. Meine Arbeiten sind verspielt, aber haben Eleganz. Sie sind bunt, manchmal humorvoll, aber immer stilvoll. Ich möchte Dinge schaffen, die es so noch nicht gibt – etwas Eigenes, das überrascht und trotzdem selbstverständlich wirkt.“
Gibt es ein Werk, das dir besonders am Herzen liegt?
„Meistens sind es die Stücke, die misslungen sind – zu fragil, zu eigenwillig, um verkauft zu werden. Ich erinnere mich an einen Teller, der im Ofen geschmolzen ist. Darauf war eine Friedenstaube, und sie ist mit der Glasur über eine Stütze geflossen. Niemand würde das kaufen, aber ich finde es wunderschön. Solche Momente liebe ich – sie zeigen, dass Material auch seinen eigenen Willen hat.“
An der BLICKFANG in Zürich kannst du Estelle Gassmann persönlich kennenlernen und eintauchen in ihre Welt aus sanften Formen, lebendigen Oberflächen und spontaner Schönheit. Hier geht es zu den Tickets!